30. Jan, 2015

Der Anfang

Ein Glas Rotwein auf dem Balkon. Natürlich der Merlot mit dem Bio-Siegel vom kleinen Supermarkt um die Ecke. Nebenbei, der einzige Wein, der bei meiner Frau Silvia keine Kopfschmerzen oder Sodbrennen verursacht. Ich dagegen, kann annähernd jeden Rotwein trinken, er muß mir nur schmecken. Ich fülle mein Glas zur Hälfte, nehme es in die rechte Hand, gehe langsam zur Balkontüre und öffne diese. Plötzlich muß ich eine Entscheidung treffen, die ich so noch nie in den Jahren davor treffen musste. Gehe ich mit meinem rechten Bein voran, überquere die kleine Schwelle und ziehe das linke Bein nach, oder versuche ich den Schritt über die Schwelle mit dem linken Bein zuerst, was etwas schwieriger sein dürfte. Jetzt, ja in diesem Moment wird es anders. Meine Konzentration ist für diesen Augenblick auf mein linkes Bein gerichtet. Ich hebe es bewußt an um über die Schwelle auf den Balkon zu treten. Das rechte Bein folgt ohne größere Probleme. Ich setze mich in meinen gut gepolsterten Balkonstuhl und mir wird wieder bewußt, dass etwas nicht mehr in Ordnung ist. Schulmedizinische Diagnose vom 06. Dezember 2011  – MS – Multiple Sklerose.

 

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Vor über achtzehn Jahren. Wir schreiben den 12. Februar 1997, Kernspintomographie des Kopfes. Befund: Symmetrische Hirnstrukturen, keine Zeichen einer Raumforderung, Mittellinenstrukturen intakt, Altersentsprechende Weite der inneren und äußeren Liquorräume. Arachnoidealcyste linke tempropolar mit einem max. Durchmesser von ca. 3 * 1,6 cm mit typischer, wasseräquivalenter Signalgebung in der T1 und T2-Gewichtung. Auf der hochsensiblen Flairsequenz kein Nachweis von periventriculären Entmarkungsherden. Kleinhirn, Stammhirn, craniocervikaler Übergang, Hypophyse, Orbita und die NNH unauffällig. Rentionscyste in der rechten Kiefernhöhle mit einem max. Durchmesser von ca. 1,5 cm. Regelrechter Flow im Bereich der basalen Hirngefäße. Kein path. KM-Enhancement.

Beurteilung: Kein Anhalt für Neuroentzündliche Systemerkrankung. Der Kommentar des Radiologen war kurz und knapp, Sie haben MS, auf Wiedersehen. Ich ging zu meinem Wagen, setzte mich hinein und machte mich auf den Weg zu meiner ca. 40 km entfernten Heimatstadt. Kaum losgefahren liefen mir Tränen übers Gesicht. Meine Gedanken waren, MS, gleich sehr schreckliche Krankheit wie Krebs, gleich Tod. Du wirst also jetzt bald sterben und bist doch erst 31. Was soll das? Und natürlich der Klassiker, warum gerade Ich?

 

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Trotz all der körperlichen Einschränkungen die aktuell mein Leben etwas anders aussehen lassen, versuche ich jeden Tag aufs neue mein Bestes zu geben. Das Beste ist allerdings nicht immer sehr viel und in solchen Momenten denke ich an früher zurück. Ich spielte in meiner Kindheit und Jugend sehr gerne und viel Fußball, Basketball, Baseball und versuchte mich auch an einigen Instrumenten wie Baritonhorn, Gitarre, Keyboard, Flöte und Mundharmonika. Die Sport- und Musikwelt hat aber sicher keinen Verlust erlitten und beide kommen sehr gut ohne mich zurecht. Auch lernte ich auf einer alten, mechanischen Schreibmaschine von Olympia mit zehn Fingern blind und durchaus flott zu schreiben, doch bin ich nun auf meine zwei Zeigefinger reduziert. Oh Gott wie ich mich lamentieren höre und dabei ein grundlegend positiver Mensch bin und auch bleiben will. Es wird erst dann richtig ernst mit mir, wenn ich meinen Humor verliere. Neulich stellte ich mir an der Tankstelle mit meinem Gehstock selber ein Bein und stürzte unversehens neben meinen Wagen. Im ersten Moment war ich etwas erschrocken, doch dann begann ich, noch im Liegen, herzhaft zu lachen. Mehrere tankwütige wollten mir halfen und ich konnte vor lauter Lachen kaum sagen, dass alles in Ordnung sei. Ein „normales“ Ereignis im Leben des G.

 

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